Informationen für Lehrkräfte und Betreuende von Kindern und Jugendlichen mit Long-COVID/Post-COVID-Syndrom und dem Krankheitsbild ME/CFS
Kinder und Jugendliche können nach einer COVID-19-Infektion an Long COVID erkranken, auch wenn dies eine seltene Komplikation ist.
Long COVID ist ein übergeordneter Begriff und beinhaltet das Post-COVID-Syndrom. Man spricht von einem Post-COVID-Syndrom bei Kindern und Jugendlichen, wenn typische Symptome innerhalb der drei Monate nach der Akutinfektion auftreten und mindestens zwei Monate anhalten. www.who.int/publications/i/item/WHO-2019-nCoV-Post-COVID-19-condition-CA-Clinical-case-definition-2023-1
Das klinische Bild eines Post-COVID-Syndroms bei Kindern- und Jugendlichen ist sehr variabel und umfasst viele verschiedene Symptome. Kinder- und Jugendliche können aber auch das Vollbild einer ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom) entwickeln. Daher können Kinder und Jugendliche im Rahmen der Post-COVID-Erkrankung in ihrer schulischen Teilhabe erheblich beeinträchtigt. In vielen Fällen ist der Schulbesuch nur eingeschränkt oder nicht mehr möglich.
Daher muss durch die variable Schwere und Ausprägung der Erkrankung bei einem Post-COVID-Syndrom und bei Vorliegen einer ME/CFS immer eine individuelle Lösung gefunden werden, die den Erkrankten eine schulische Teilhabe ermöglicht.
Für Schulleitungen und Lehrkräfte ist es wichtig, diese Krankheitsbilder zu kennen und zu verstehen, um die Familien individuell beraten und unterstützen zu können.
Nachfolgend werden deshalb die wichtigsten Begriffe und deren Bedeutung im Zusammenhang mit dem Post-COVID-Syndrom bzw. der ME/CFS vorgestellt. Hinzu kommen Tipps und Hinweise, was Lehrkräfte sowie weitere pädagogische Fachkräfte wissen sollten und wie sie helfen können.
Die WHO hat im Februar 2023 anhand der aktuellen Studienlage folgende Symptome eines Post-COVID-Syndroms gelistet, die bei Kindern- und Jugendlichen auftreten und persistieren können:
- Durchfall, Übelkeit, Appetitverlust
- Schlafstörung
- Orthostatische Probleme, Herzstolpern, Schwindel
- Kognitive Einschränkungen
- Erschöpfung, Belastungsintoleranz
- Husten, Dyspnoe, Brustschmerzen
- Fieber, Gelenkschmerzen/Schwellung, Halsschmerzen, Hautausschläge
- Kopfschmerzen
- Lichtempfindlichkeit
- „Brain Fog“ (verlangsamte Informationsverarbeitung, erhebliche Wortfindungs- und Sprachstörungen, ein gestörtes Kurzzeitgedächtnis sowie eine eingeschränkte Konzentrationsfähigkeit)
Diese Symptome können einzeln oder in Kombination auftreten und Teil des Krankheitsbildes ME/CFS sein.
Was ist ME/CFS?
Die Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist eine schwere, chronische Multisystem-Erkrankung, die oft zu einem hohen Grad an körperlicher Behinderung und sehr geringer Lebensqualität führt. In den meisten Fällen entsteht ME/CFS in Folge einer akuten Infektionserkrankung, beispielsweise nach einer Grippe, einem Pfeifferschen Drüsenfieber (Epstein-Barr-Virus) oder einer Coronavirus-Erkrankung-2019 (COVID-19). Die Erkrankung ist mitunter durch schwere und langanhaltende Verläufe (mehrere Jahre) gekennzeichnet und ist bei Erwachsenen schon lange bekannt. Durch die Corona-Pandemie ist dieses Krankheitsbild in den Vordergrund gerückt und betrifft auch Kinder und Jugendliche.
25% der Patienten mit ME/CFS sind mild betroffen, 50% moderat und 25% der Patienten schwer. Schwer bedeutet, bettlägerig und auf Pflege angewiesen zu sein.
ME/CFS führt zu einer schnellen und langanhaltenden Erschöpfung. Betroffenen fällt es schwer, ihre alltäglichen Aufgaben zu bewältigen. Oftmals sind diese Patienten auf einen Rollstuhl angewiesen. Schwer betroffene Patienten sind bettlägrig.
Die Prognose ist bei Kindern und Jugendlichen besser als bei Erwachsenen, allerdings können auch bei ihnen langwierige Verläufe auftreten.
Symptome von ME/CFS
ME/CFS wirkt sich bei Betroffenen unterschiedlich aus. Die Art, Dauer und Ausprägung der Symptome können tagesformabhängig variieren. Die Betroffenen leiden unter einer Vielzahl an Symptomen. Hier einige der Symptome im Überblick:
- Belastungsintoleranz (Postexertionelle Malaise (PEM))
- Orthostaseintoleranz (Absinken des Blutdrucks im Stehen)
- Posturales Tachykardiesyndrom
- Herzrasen
- Erschöpfung
- Konzentrationsstörungen
- Schwindel
- Kopf- und Bauchschmerzen
- Lichtempfindlichkeit
- Geräuschempfindlichkeit
- Schlafstörungen mit verschobenen Tag- und Nachtrhythmus
- Schmerzen (Kopf-, Muskel,-Gliederschmerzen)
Die aufgeführten Symptome können die Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen beeinträchtigen und somit zur Verschlechterung der schulischen Leistungen führen. Dadurch erleben die Kinder und Jugendlichen ein Gefühl des Versagens, einhergehend mit Frustration und Verzweiflung.
Postexertionelle Malaise (PEM)
Die postexertionelle Malaise, kurz PEM genannt, ist eines der Hauptkriterium der ME/CFS. PEM bedeutet, dass sich Symptome nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung massiv verschlechtern. Die PEM tritt unmittelbar nach einer überlastenden Aktivität auf oder mit einer Zeitverzögerung von 12 bis 48 Stunden danach. Sie kann mehrere Tage bis hin zu mehreren Wochen anhalten und zu einer dauerhaften Zustandsverschlechterung führen. In der deutschen Fachsprache spricht man auch von Belastungsintoleranz. Betroffene bezeichnen eine starke PEM auch als „Crash“. Patienten und Patientinnen berichten eine massive Zunahme von Erschöpfung, Kopfschmerzen, Gliederschmerzen, Licht- oder Geräuschempfindlichkeit, Schlafstörungen oder auch anderen Symptomen.
Welche Aktivität überlastende Auswirkungen hat und damit PEM auslöst, ist individuell unterschiedlich. Je nach Schweregrad der Erkrankung können alltägliche Aktivitäten, wie das Einkaufen im Supermarkt, das Zähneputzen oder eben das Bearbeiten von Hausaufgaben oder Klassenarbeiten PEM auslösen. Auslöser für eine PEM können daher körperlicher, geistiger oder emotionaler Natur sein.
ME/CFS-Erkrankte können von einer gezielten Aktivierung ernsthaften Schaden nehmen, da sie wiederkehrende Crashs auslösen und so zu einer langanhaltenden Zustandsverschlechterung führen kann.
Die Belastungsgrenze kann sich im Krankheitsverlauf verändern und variiert teilweise sogar tages- oder stundenweise. Um eine Überlastung und somit PEM zu vermeiden, wenden Betroffene das sogenannte Pacing an, auf Deutsch „sich selbst das richtige Tempo geben“. Pacing ist eine Selbstmanagementstrategie, durch welche die eigene Energie eingeteilt wird. (https://www.mecfs.de/video-zu-post-exertioneller-malaise-pem/)
ME/CFS kann das schulische Leben betroffener Kinder und Jugendlicher in vielerlei Hinsicht beeinträchtigen, beispielsweise durch:
verminderte Möglichkeit zur Teilnahme am normalen Alltag, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Klassenzimmers
erhöhte Fehlzeiten
Verpassen von zum einen wichtigem Schulstoff,
zum anderen auch sozialen Entwicklungsmöglichkeiten
eingeschränkten Kontakt und Beziehungen zu Gleichaltrigen
Einschränkungen in der Arbeits- und Konzentrationsfähigkeit durch für sie sehr störende Umweltfaktoren
verminderte Fähigkeit, Hausaufgaben und andere Verpflichtungen zu erfüllen
geringeren schulischen Erfolg
Angst und/oder Verzweiflung angesichts der Beschwerden und ihrer Folgen
Es gibt für die Diagnosestellung dieser beiden Erkrankungen bisher keine Blutuntersuchungen oder apparative diagnostische Verfahren. Die Diagnose wird mittels standardisierter Fragebögen durch Erfassung der Symptome gestellt. Darüber hinaus müssen einige (teilweise gut behandelbare) Erkrankungen ausgeschlossen werden, deren Symptome sich mit denen des Post-COVID-Syndroms bzw. der ME/CFS überlappen können.
Kinder und Jugendliche mit anhaltenden Beschwerden nach einer COVID-Infektion können sich in Baden-Württemberg an das ortsnahe Sozialpädiatrische Zentrum der jeweiligen Universitätskinderkliniken Freiburg, Heidelberg, Ulm und Tübingen wenden (Kontakt: https://move-covid.de/kontakt). Dort erfolgt eine interdisziplinäre Abklärung der Beschwerden. Bei Diagnosesicherung eines Post-COVID-Syndroms oder einer ME/CFS wird ein fachärztliches Attest ausgestellt, das Familien der Schule vorlegen können.
Leider gibt es noch keine einheitliche und gezielte Therapie zur Behandlung von ME/CFS. Das Hauptaugenmerk richtet sich daher auf unterstützende Maßnahmen und eine symptomorientierte Therapie.
ME/CFS ist bei Kindern, Jugendlichen und sehr jungen Erwachsenen noch wenig erforscht.
Die Symptome, an denen die Kinder und Jugendlichen leiden, können auch auf andere Erkrankungen zurückzuführen sein, welche zunächst ausgeschlossen werden müssen. ME/CFS ist damit eine Ausschlussdiagnose, für die eine genaue Stufendiagnostik und interdisziplinäre Zusammenarbeit nötig ist. Zusätzlich wird die Diagnosestellung dadurch erschwert, dass es aktuell keinen Biomarker oder klinischen Test gibt, durch den sich ME/CFS feststellen lässt.
Es ist somit häufig ein langer Weg, bis die Diagnose ME/CFS gestellt werden kann. Das Verhalten der betroffenen Kinder und Jugendlichen wird oft fehlinterpretiert und fehldiagnostiziert – insbesondere als Depression, Sozialphobie oder Schulangst.
Anders als bei diesen Erkrankungen können ME/CFS-Erkrankte jedoch von einer gezielten Aktivierung ernsthaften Schaden nehmen, da sie wiederkehrende Crashs auslösen und so zu einer langanhaltenden Zustandsverschlechterung führen kann. Ist man mit dem Krankheitsbild nicht vertraut, kann die Symptomatik der Kinder, Jugendlichen und sehr jungen Erwachsenen im Schulalltag auch als Faulheit oder Vermeidung interpretiert werden, denn den Betroffenen sieht man ihre Erschöpfung oft nicht direkt an
In Abgrenzung zur Schulphobie oder primären Depression können sich Symptome während der Ferien verbessern. Außerdem sind Kinder und Jugendliche mit ME/CFS im Gegensatz zu Schülerinnen und Schülern mit einer Schulphobie oder Depression hochmotiviert, wieder zurück in die Schule zu kehren.
Um Stigmatisierung zu entgehen und sich nicht permanent erklären zu müssen, versuchen erkrankte Kinder und Jugendliche häufig ein „normales“ Bild von sich aufrechtzuerhalten, indem sie all ihre Kräfte für den Schulbesuch aufbringen. Dadurch können sie in einen Überlastungszustand geraten und müssen sich im Nachhinein oft lange erholen.
Kinder und Jugendliche müssen nach einer durchgemachten COVID-Infektion nicht immer das Vollbild einer ME/CFS entwickeln.
Somit können auch isolierte Symptome, wie Erschöpfung, kognitive Einschränkungen („Brain Fog“), anhaltende Kopfschmerzen, usw. die schulische Teilhabe beeinträchtigen und benötigen individuelle Lösungsvorschläge.
Rechtliche Grundlagen dafür sind die Verordnung des Ministeriums für Kultus
und Sport über den Hausunterricht und die Verwaltungsvorschrift Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf und Behinderungen. Darüber hinaus bietet die Handreichung Förderung gestalten - Modul E: Chronische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen mit Auswirkungen auf den Schulalltag eine Handlungsgrundlage.
Bei einer Rückkehr in die Schule sollte darauf geachtet werden, die Anwesenheitsdauer und das Arbeitspensum schrittweise zu erhöhen und dabei auf Rückmeldungen der Betroffenen zu achten, um eine körperliche und geistige Überlastung zu vermeiden.
ME/CFS ist eine komplexe Störung, die sich auf das Lernen und die Teilnahme am Unterricht auswirkt. Lehrer können den von ME/CFS betroffenen Schülern helfen, indem sie sich bemühen eine motivierende, unterstützende und entlastende Lernumgebung zu schaffen.
Maßnahmen der individuellen Unterstützung beruhen auf individuellen Absprachen zwischen der Schule und dem betroffenen Schüler oder der Schülerin. Maßnahmen im Rahmen des Nachteilausgleich müssen von der Klassenkonferenz beschlossen werden. Sie dürfen nicht im Zeugnis festgehalten werden.
Beispiele:
Mögliche Beeinträchtigungen, welche durch das Krankheitsbild bedingt sind | Unterstützungsmöglichkeiten an der Schule |
Geringe Belastbarkeit |
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Körperliche Erschöpfung, Fatigue |
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Konzentrationsschwierigkeiten, Brain Fog |
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Licht-/ Geräuschempfindlichkeit |
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Gefahr eines Crashs (PEM) |
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Fehlende soziale Teilhabe |
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… |
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Diese Liste stellt keine vollständige Sammlung an Maßnahmen dar. Lehrkräfte müssen auf die besonderen Bedürfnisse jedes Schülers individuell eingehen, um der ME/CFS-Problematik gerecht zu werden. Auf dieser Basis kann dann ein adäquater Nachteilsausgleich erstellt werden. Dieser bezieht sich sowohl auf das Unterrichtsgeschehen als auch auf die Leistungsüberprüfungen.
Damit Mitschülerinnen und Mitschüler die angewendeten Maßnahmen nicht als Bevorzugung, sondern als notwendig für die Herstellung von Chancengleichheit wahrnehmen, kann es nötig sein, die Klasse über ME/CFS zu informieren. Dies muss immer in Absprache mit den Eltern und unter Beachtung des Willens der oder des Betroffenen geschehen. Diagnosen dürfen nicht ohne schriftliche Einwilligung weitergegeben werden, weder an Mitschülerinnen und Mitschüler noch an weitere Lehrkräfte. Betroffene oder Mitschülerinnen und Mitschüler könnten Referate über die Erkrankung halten. Online gibt es kindgerechtes Informationsmaterial zu ME/CFS, zum Beispiel als Comic.
Die Schülerinnen und Schüler und ihre Familien sind in dieser schwierigen Situation auf Ihre Unterstützung angewiesen.
Deutsche Gesellschaft für ME/CFS: Brain Fog. Online: DG ME/CFS (9.11.2023).
Elterninitiative ME/CFS- kranke Kinder und Jugendliche München e.V.: Schulen und Lehrkräfte. Online: Elterninitiative (9.11.2023).
Fatigatio e.V.: ME/CFS bei Kindern und Jugendlichen. Online: Fatigatio (9.11.2023).
SPZ der Universitätskinderklinik Würzburg: Informationen für Lehrkräfte und Betreuende von Kindern und Jugendlichen mit ME/CSF. Online: SPZ Würzburg (9.11.2023).
Universitätsklinikum Freiburg: Verbesserung der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Long-COVID in BW. Online: move-covid.de (5.12.24).
Verwaltungsvorschrift (Baden-Württemberg): Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf und Behinderungen. I.d.F.v. 22.08.2008.
Klinikschule Freiburg www.klinikschule-freiburg.de